Keynote Speech von Gerhart Baum

Rede von Gerhart Baum, FDP-Politiker und Innenminister a.D., anlässlich der Verleihung des Hanns Joachim Friedrichs-Preis 2021 am 4. November 2021 beim Westdeutschen Rundfunk in Köln.


"Guten Abend meine Damen und Herren,

ich bin gerne gekommen. Ich weiß, was dieser Preis bedeutet. Ein Preis für Journalisten, die Mut gezeigt haben. Sie sind Beispiele für andere. Weltweit werden Journalisten verfolgt. Sie bezahlen mit ihrer Freiheit, mit ihrem Leben, weil sie den Unterdrückten eine Stimme geben. Sie sind Menschenrechtsverteidiger. Wir kennen die Berichte.
Besorgniserregend ist die Entwicklung in Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. in Polen und in Ungarn erleben wir eine Regression der Demokratie. Wahrscheinlich würden diese Staaten die Beitrittsbedingungen heute gar nicht mehr erfüllen. Europa muss sich entschieden wehren.

Auch hierzulande, in einer funktionierenden Demokratie, muss Pressefreiheit immer wieder verteidigt werden: gegen die Sicherheitsbehörden, gegen Staatsorgane, die sich nicht in die Karten sehen lassen wollen und auch gegen den einen oder anderen Verleger. Whistleblower sind immer noch nicht hinreichend geschützt. Aber: unsere offene demokratische Gesellschaft wehrt sich. Sie ist sensibel gegenüber Freiheitsverletzungen. Eine junge Generation ist offenbar gewillt, Freiheit ernst zu nehmen. Perfid ist die um sich greifende Verteidigung der Diktaturen. Sie berufen sich auf die Gerichte. Aber diese sind nicht unabhängig und sie wenden ein Recht an, das Oppositionelle und Journalisten als Terroristen behandelt. Das Strafrecht wird als politische Waffe genutzt – in Belarus, in Russland, in Hongkong und in der Türkei.

Es gibt zahlreiche neue gesellschaftliche Konflikte, die den unabhängigen Journalismus herausfordern. An der Spitze ist es die weltweite digitale Globalisierung. Eine Zeitenwende! Unser Kommunikationsverhalten, die Meinungsbildung in unserer Gesellschaft, das alles verändert sich von Grund auf. Die technologische Entwicklung, Quantencomputer, Künstliche Intelligenz, Cyberwar-um nur einige Stickworte zu nennen droht sich zu verselbständigen. Natürlich bietet sie auch bisher nicht gekannte Chancen. Aber sie hat auch eine Nachtseite, die aus dem Blick geraten ist.

Das „große emanzipatorische Versprechen“ - stellte Habermas kürzlich fest - „wird heute von den wüsten Geräuschen in den fragmentierten in sich selbst kreisenden Öffentlichkeiten übertönt... die Trennschärfe von „öffentlich“ und „privat“ verblasst“. Es ist noch viel schlimmer: in jedem Moment wird die Menschenwürde von Milliarden Menschen verletzt, die sich dessen gar nicht bewusst sind. Jetzt erst z.B. hat Facebook hunderte Millionen Gesichtserkennungen gelöscht. Diese „Nachtseite“ des Internets muss noch viel stärker in den öffentlichen Diskurs und nicht nur die Ausstattung von Schulen und Behörden mit Computern. Ich wünsche mir eine breite öffentliche Diskussion - immer wieder angestoßen durch Sie, die Journalisten. Die Menschen müssen aufgeweckt werden.

„Populismus ist einfach, Demokratie ist komplex“ - mit diesen Worten warnte Ralf Dahrendorf bereits vor Jahrzehnten vor einem autoritären Jahrhundert. Vermutlich war keine Evolutionsphase in der Geschichte der Menschscheit rasanter als die, die wir heute erleben und kaum zu bändigen wissen. Selten war das Bedürfnis nach Orientierung stärker. Viele Menschen fühlen sich ausgegrenzt. Sie kommen nicht mehr mit und suchen ihr Heil bei den schrecklichen Vereinfachern. Unsere demokratische Ordnung befindet sich plötzlich auf der Anklagebank und mit ihr der unabhängige Journalismus. Das freie Wort stört das vorgefasste Weltbild in der Internet-Blase. Also wird es diskreditiert - mit gefährlichen Angriffen auf Rundfunk- und Pressefreiheit.

Diese Tendenz ist, wie die Soziologen feststellen, nicht nur bei den sichtbaren Demagogen feststellbar, sondern auch bei ernstzunehmenden, aber schweigenden Minderheiten. Dort gibt es erkennbare Verrohungstendenzen. Es ist ein Extremismus der Mitte entstanden. Er wird uns noch zu schaffen machen.

Differenzierte sachkundige Information und Aufklärung sind gefordert - durch Qualitätsjournalismus. Presse- und Rundfunkfreiheit sind zu hohe Güter, als dass man sie nur an Renditeinteressen messen dürfte. Auch die möglichst hohe Erreichbarkeit von Nutzern unter Quotengesichtspunkt darf in den Kernbereichen kein Maßstab sein. Das Land braucht Qualitätsjournalismus - das erfordert Investitionen in Ausbildung und Bezahlung als Gegenwirkung gegen Tendenzen der Oberflächlichkeit und Verflachung, die es auch gibt. Das sind Investitionen in den Bestand und in die Zukunftsfähigkeit unserer Demokratie. Man sollte die Nutzer, auch im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, in ihren Qualitätsansprüchen nicht unterschätzen. Unterforderung darf kein Maßstab sein!

Nicht nur die Politik, auch der Journalismus muss Themen setzen. Journalismus muss nicht nur aufklären, sondern er muss die Regierenden zwingen, Themen auf die Tagesordnung zu setzen und komplexe Zusammenhänge zu erklären. Gerade jetzt! Das muss in einer Sprache geschehen, die auch verstanden wird. Ein Austausch unter Eliten, das reicht nicht. Die Tagesaktualitäten dürfen in dieser Zeitenwende nicht allein das Bild bestimmen. Sie müssen eingeordnet werden, auch in langfristige Perspektiven. Zukunftsthemen müssen beharrlich erfragt und zum Thema gemacht werden. Zum Beispiel: Welche Auswirkungen hat die negative demografische Entwicklung auf den Arbeitsmarkt, auf die Renten und die Zuwanderung. Was muss denn wirklich geschehen, um Europa zu stärken. Europa ist unsere Zukunft, wir haben keine andere! Da wird jeder zustimmen. Aber wie muss diese Zukunft aussehen? Auch unangenehme Wahrheiten müssen sichtbar werden in einem Land, in dem wir uns auf Dauer nur dann wohlfühlen können, wenn wir diese unangenehmen Wahrheiten akzeptieren – gerade jetzt auch in der Pandemie.

In Sachen Zukunftsperspektive hat jetzt das Bundesverfassungsgericht mit seiner Klimaentscheidung ein Zeichen gesetzt. Die Älteren dürfen die Lasten der Freiheitseinschränkungen durch Klimaschutz nicht auf die Jüngeren verschieben. „Intertemporäre Freiheitssicherung“ heißt das. Ein aufsehenerregender Perspektivwechsel!
Mich erschrecken die in Umfragen sichtbar werdenden Befürchtungen vieler Bürger, man könne in diesem Lande seine Meinung nicht mehr sagen. Es bestünde eine Art Meinungsterror. Gemeint ist auch, dass man Nachteile befürchtet, wenn man sich offen äußert. Ist das wirklich so? Bedroht ist ein Bürgermeister, der sich für die Aufnahme von Flüchtlingen engagiert. Das ist zu verstehen. Aber was kann man gegen die vermeintliche Bedrohung tun? In einem aufgeklärten Meinungsklima muss es zum Beispiel auch möglich sein, Kritik am Trend des Genderns üben zu dürfen.

Der Journalismus in der Pandemie-Krise: Er hat seine Aufgabe erfüllt. Er hat sie meines Erachtens auch gut erfüllt. Gerade auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk in der In- und Auslandberichterstattung. Gäbe es ihn nicht, man hätte ihn jetzt erfinden müssen, sagte mir ein Freund. Die Sender haben wesentlich dazu beigetragen, Positionen der Wissenschaft und Antworten aus der Politik nicht nur darzustellen, sondern einem kritischen Diskurs auszusetzen. Niemand im Lande kann behaupten, sich nicht gut informieren zu können.

Zwei kritische Bemerkungen: Spät kam die Erkenntnis, dass die Pandemie auch die Stunde der Parlamente sein muss. Massive Grundrechtseinschränkungen - das geht nicht ohne den Bundestag. Aber auch jedes einzelne Landesparlament war gefordert. Die Parlamentarier waren lange Zeit überhaupt nicht öffentlich sichtbar. Man war offenbar der Meinung, sie hätten ohnehin nichts beizutragen.

Und noch etwas: es fehlt bis heute eine fundierte Debatte darüber, auf welcher Werteordnung diese Maßnahmen eigentlich basieren. Welchen Stellenwert haben Lebensschutz und Gesundheitsschutz in unserer Verfassung? War die Regierung tatsächlich verpflichtet so rigoros vorzugehen. Sie hat sich orientiert an dem Leitprinzip unserer Verfassung: dem Schutz der Menschenwürde. Wenn das so ist, dann kann doch die Zahl der Intensivbetten allein nicht der Maßstab sein, in denen eine hohe Anzahl der Kranken dann doch verstirbt. Die Seuche an sich muss bekämpft werden. Die für November angekündigte Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts wird Anlass sein, vertieft darüber nachzudenken.

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat Akzeptanzprobleme. Von einer Krise möchte ich noch nicht sprechen. Aber er steht vor großen Strukturveränderungen. Von zentraler Bedeutung ist der Programmauftrag. Er umfasst die Kernaufträge. Einer von denen ist neben dem Bildungs- und Kulturauftrag der Informationsauftrag. Das betrifft Sie, die Journalisten. Soeben wurde der Entwurf eines neuen Medienstaatsvertrages beschlossen. Er definiert erneut den Programmauftrag und er kommt in den nächsten Monaten auf den Prüfstand. Eine ganz wichtige Phase der Meinungsbildung steht uns bevor.

Es geht auch um eine stärkere demokratische Kontrolle der Sender. Ich betone: eine demokratische, nicht eine parteipolitische Kontrolle ist gemeint. Die Stärkung der Aufsichtsgremien steht auf der Tagesordnung. Sie müssen künftig, Qualitätsziele vorgeben und kontrollieren können.

Alles in allem: Es besteht kein Anlass zur Resignation. Wenn die Gefahren erkannt werden, dann können sie auch bekämpft werden.

Zwei gerade verstorbene Journalisten, deren wir uns mit Dankbarkeit erinnern, haben auf diese Weise gekämpft, für die Menschenwürde, weltweit.   Bettina Gaus, unbeirrbar, mutig, unbestechlich mit unverwechselbarem Profil. Gerd Ruge - in vieler Hinsicht herausragend und beispielhaft für mehrere Journalistengenerationen – gemeinsam mit Carola Stern ja auch Gründer von Amnesty Deutschland.

Auch die heutigen Preisträger machen Mut. Sie stehen in einer langen Reihe der Hanns Joachim Friedrichs-Preisträger – alle diese mit herausragenden journalistischen Leistungen. Dieser bedeutende Journalistenpreis würdigt und ermutigt zugleich. Und er soll andere einladen, diesen Beispielen zu folgen. Ich gratuliere!"