Navid Kermani - Laudator 2021
Rede von Schriftsteller Navid Kermani für Preisträgerin Katrin Eigendorf anlässlich der Verleihung des Hanns-Joachim-Friedrichs-Preises 2021 am 4. November 2021 beim Westdeutschen Rundfunk in Köln.
"Liebe Frau Eigendorf, meine Damen und Herren,
als erstes muss ich mich entschuldigen. Ich habe kein Manuskript, das ging so schnell nicht. Das ist meine kleine Rede. Aber als ich gehört habe, dass Sie den Preis bekommen, – das ist schon etwas länger her, dass ich das gehört hatte – da habe ich mich schon so wahnsinnig gefreut. Und als ich gehört habe, dass kein Laudator oder keine Laudatorin da ist plötzlich, dann habe ich mich eben auf dass Fahrrad geschwungen und einen Anzug vorher angezogen und bin jetzt hier. Und hoffe, dass mir das in den vorgegebenen sechs Minuten, von denen ich jetzt wahrscheinlich schon eine verquatscht habe, gelingt.
Es gibt im Fernsehen – gelegentlich – Sternstunden. Wir alle haben die ein oder andere vor Augen, im Gedächtnis, im Gemüt. Für einige dieser Sternstunden ist Frau Eigendorf verantwortlich. Sie ist in der Ukraine gewesen, in der Türkei gewesen. Zuletzt haben wir sie immer wieder in Afghanistan erlebt. Ich möchte nur eine dieser Sternstunden Ihnen kurz noch einmal vor Augen rufen. Viele haben es gesehen: Kabul ist gefallen zurück an die Taliban, es war Panik überall. Und plötzlich sehen Sie einen Bericht über eine afghanische, junge afghanische Bürgermeisterin, Zarifa Ghafari. Ich bin sicher, die meisten Zuschauer in Deutschland waren schon überrascht, dass es eine afghanische Bürgermeisterin gibt. Und plötzlich sehen sie ein Portrait von ihr. Und in diesen sieben Minuten – ich glaube, so lang war der Beitrag – war alles da: Da war mehr drin als in Pressedossiers, in fünf Talkshows, in acht Debatten im Parlament. Das ganze Land, das Elend dieses Landes, die Hoffnung, die Kraft, der Mut, die Ratlosigkeit war plötzlich vorhanden, war da. Und dann – damit endete das ja nicht – ist Zarifa Ghafari unmittelbar danach auch noch live im Fernsehen – ich glaube sogar am Abend oder am Tag nach ihrer Flucht aus Kabul – und spricht zu uns. Und das waren wirklich große Fernsehmomente, weil sie überhaupt keine Lösung bot, sondern Ratlosigkeit und Verzweiflung. Und weil sie für so viele andere Menschen in diesem Land sprach.
Ich glaube, das war, was für diesen Abend möglich war – keine Lösung, sondern -, dass wir alle einen Eindruck bekommen haben von diesem Land. Und wenn Sie glauben, und ich glaube, das glaubt niemand von Ihnen, eine rhetorische Frage; wenn Sie glauben, dass solche Sternstunden vom Himmel fallen: nein! Da sind Menschen, Journalisten, Journalistinnen lange vor Ort. Dass so jemand wie Zarifa Ghafari das Vertrauen hat, dass sie weiß, wenn diese Deutsche da sagt ‚Mach das!‘, dass sie das macht. Dass sie ihr Herz öffnet vor so vielen Millionen Zuschauern am Tag von oder am Tag nach ihrer Flucht. Dass sie Frau Eigendorf mitnimmt in Afghanistan, auf die Tour in die Dörfer zu den Dorfältesten. Das geschieht nicht, wenn man da einmal reinschneit, wenn die Katastrophe da ist. Nein, so etwas passiert, wenn man lange vor Ort ist, wenn man Beziehungen aufbaut, wenn man vielleicht sogar die Sprache lernt. Wenn man sich interessiert, wenn die Menschen wahrnehmen, dass man sich für das Land interessiert. Und weil sie wissen, weil sie ahnen, dass dieser Mensch nicht verschwindet, wenn die Übertragungswagen von CNN wieder verschwunden sind.
Und eine solche Journalistin ist Frau Eigendorf und jetzt merken Sie schon, warum ich gar keine Wahl hatte als mich auf das Fahrrad zu schwingen und Ihnen zu sagen, dass wir Sie brauchen im deutschen Fernsehen. Dass wir Journalistinnen und Journalisten wie Sie brauchen! Denn das nehmen wir doch alle wahr und ich glaube da sind wir auch ein bisschen verantwortlich: Die Welt verschwindet für unsere Zuschauer. Denken Sie an den letzten Wahlkampf, denken Sie jetzt an diese Koalitionsgespräche. Denken Sie an das Fernsehprogramm, an die Talkshows, an die Themen: Wir nehmen immer weniger wahr von der Welt, obwohl wir gleichzeitig immer abhängiger werden von äußeren Faktoren, von Dingen, die wir gar nicht in der Hand haben. Ich muss gar nicht nur Pandemie sagen. Die Pandemie wird nicht in Deutschland gelöst. Der Klimawandel wird nicht in Deutschland gelöst. Das sind alles Themen. Die Fluchtbewegungen entstehen nicht in Deutschland. Aber wir sind abhängig von diesen Bewegungen und wenn wir meinen, dass wir etwas tun können, dann ist das erste uns überhaupt zu informieren, was da draußen passiert. Denn irgendwann betrifft es uns sowieso. Auch eine Pandemie ist nicht einfach vom Himmel gefallen. Da waren Faktoren auf die Virologen lange hingewiesen haben. Die Fluchtbewegungen sind lange früher entstanden.
Und wir sollten nicht so überrascht sein, wie unsere Politiker, die dann plötzlich so tun, als hätte es das vorher gar nicht gegeben. Und wenn sie etwa, um noch einmal zurückzukommen auf Frau Eigendorf, wenn sie im Sommer ihren Bericht gesehen haben über die Rückkehr der Taliban, die schleichende Rückkehr, dann waren sie eigentlich schon vorbereitet. Vielleicht nicht im Detail, aber sie wussten, hätten wissen können, was da gerade im Lande geschieht. Und so braucht es Menschen wie Sie, Frau Eigendorf, die diese Empathie, diesen Mut, auch diese Ängstlichkeit, von der Sie sprechen, – die kann ich sehr gut nachvollziehen, denn das sind eigentlich die guten Reporter, die ängstlich sind, die hinter den Frontlinien sind. Die Menschen vor Ort sind ja auch ängstlich. Wenn Sie jetzt mutiger sind als die, dann bekommen Sie gar nicht mit, was da passiert. Sie nehmen Anteil an diesen Menschen und gehen so vorsichtig vor, wie die Menschen vor Ort auch.
Es braucht solche Botschafterinnen der Welt, gerade jetzt nach dieser Pandemie, wo wir alle nur vor den Computern am Schreibtisch saßen. Wo Korrespondenten nicht reisen konnten, wo es keine Visa gab. Gerade jetzt müsste eigentlich die Offensive beginnen: Raus in die Welt. Berichten, wahrnehmen, dokumentieren, erleben. Es wurde gesagt: Nicht noch eine Meinung, sondern überhaupt erstmal erfahren, was da stattfindet und dafür braucht es eben Personen wie Sie.
Und das muss ich dann eben auch nochmal ganz kurz, fernsehkritisch, sagen: Natürlich braucht es auch die Sendeplätze. Also dass natürlich die Welt auch im Fernsehen vorkommen muss, dass sie nicht weggerückt wird aus den Hauptsendezeiten, nach hinten, nach vorne, nach links, nach rechts. Nein, genau das ist die Kernkompetenz unserer Sendeanstalten, unserer Medien, Redaktionen. Weil: es gibt so wahnsinnig viele gute Journalistinnen, Journalisten, die berichten können und die glaube ich auch gehört werden sollen. Und wenn dieser Preis so gemeint ist, dass genau eine solche, hintergründige, nachhaltige, empathische und doch irgendwo mit niemandem sich gemein machende Berichterstattung gewürdigt wird, dann mag das auch ein Ansporn sein, dass Sie in Zukunft auch ein bisschen Platz bekommt im deutschen Fernsehen. Vielen Dank und herzlichen Glückwunsch Frau Eigendorf zu diesem Preis!"